Die wirtschaftliche Situation in Deutschland ist neben der Migrationspolitik eines der zentralen Themen im Bundestagswahlkampf. Angesichts der anhaltenden Rezession, die manche Unternehmen zunehmend in Existenznöte bringt und inzwischen auch den Arbeitsmarkt erfasst hat, ist das kaum überraschend. Aber könnte eine neue Regierungskoalition im Bund überhaupt wirklich Wachstumsimpulse setzen? Angesichts der vielen Krisen in der Welt, auf die die deutsche Politik nur bedingt Einfluss hat? Im Gespräch mit dem WiMa sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Berlin, Dr. Achim Dercks, welche staatlichen Vorgaben ihn am meisten nerven, warum er trotz aller Erfahrungen die Chance für einen Bürokratieabbau sieht – und was er von der Brombeer-Koalition in Thüringen hält.
Herr Dr. Dercks, die deutsche Wirtschaft steckt mitten in einer Rezession – und eine Bundestagswahl steht vor der Tür. Aus Sicht der Wirtschaft kommt die doch eigentlich zur Unzeit, oder?
Es ist sehr wichtig für die Wirtschaft, dass wir nach der Wahl schnell wieder eine handlungsfähige Bundesregierung bekommen. Wir können uns in der schwierigen Wirtschaftslage keine lange Hängepartie erlauben. Die Unternehmen brauchen einen wirtschaftspolitischen Kurs der neuen Bundesregierung, der klar auf Wachstum ausgerichtet ist. Die Folgen der geopolitischen Konflikte für unsere exportorientierte Wirtschaft sind erheblich und treffen auf strukturelle Probleme, die zum guten Teil hausgemacht sind. 2024 war das zweite Jahr in Folge mit sinkendem Bruttoinlandsprodukt. Das gab es in Deutschland seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr. Und die Aussichten für dieses Jahr sind nicht wirklich besser. Wichtige Investitionen bleiben aus, weil die Rahmenbedingungen für die Unternehmen nicht stimmen. Es ist deshalb dringend geboten gegenzusteuern.
Auf welchen wirtschaftspolitischen Feldern kann eine neue Bundesregierung nach Ihrer Einschätzung überhaupt Akzente setzen?
Wir müssen die Weichen für ein wettbewerbsfähiges Deutschland und Europa stellen.
Was heißt das denn konkret?
Wir brauchen Entlastungen bei den im internationalen Vergleich viel zu hohen Energiekosten, einen Abbau der überbordenden Bürokratie und mehr Tempo bei Infrastrukturprojekten. Auch eine Reform der Unternehmensbesteuerung ist überfällig. Nur im Vertrauen auf bessere Rahmenbedingungen investieren die Unternehmen auch wieder mehr. Die neue Bundesregierung muss hier kräftige Impulse setzen, damit sich die deutsche Wirtschaft wieder erholen kann.
Sind das auch die drängendsten Probleme der deutschen Wirtschaft?
Ja, in der Tat: Energie, Bürokratie, Verfahrensbeschleunigung und Gewinnung von Fachkräften. In diesen Feldern brauchen wir ein glaubwürdiges Reformpaket. Vieles davon belastet auch nicht die öffentlichen Haushalte. Denn derzeit werden die Unternehmen vor allem mit immer mehr Bürokratie und Berichtspflichten belastet. Die dafür erforderliche Zeit würden Betriebe viel lieber für ihr eigentliches Geschäft einsetzen.
Aber mal ganz ehrlich: Die Forderung nach dem Abbau von Bürokratie erheben Sie und andere Wirtschaftsvertreter seit Jahrzehnten. Sie ist doch bislang ungehört verhallt, viele Unternehmen werden mehr und mehr mit Dokumentationspflichten und Ähnlichem belastet. Haben Sie wirklich die Hoffnung, dass einer neuen Bundesregierung da wirklich ein Befreiungsschlag gelingt?
Wir setzen darauf, dass die Politik angesichts von ausbleibendem Wachstum und zuletzt steigender Arbeitslosigkeit bei Reformen mutiger wird. Denn es ist zwar etwas passiert – etwa zuletzt mit dem vierten Bürokratieentlastungsgesetz. Aber das reicht bei weitem nicht aus. Vor allem von der EU-Ebene kommen immer mehr Auflagen und Vorschriften, mit denen Unternehmer in der Betriebspraxis zu kämpfen haben. Für die deutsche Wirtschaft ist der Bürokratieabbau daher essenziell.
Nun hat die Politik für manche Bereiche der Wirtschaft aber ohnehin nur einen gewissen Einfluss. Weil manche Dinge eben doch der Markt regelt…
Genau deshalb ist es wichtig, dass die Unternehmen mehr Flexibilität und Freiraum haben. Wenn die Politik für wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen sorgt, die Unternehmen ihre Innovationskraft entfalten und sie in unterschiedliche Technologien investieren können, dann sind wir auf einem guten Weg. Wir dürfen uns nicht mit zu engen Vorgaben und kleinteiligen Auflagen selbst immer mehr Steine in den Weg legen. Die Unternehmen stehen in einem harten internationalen Wettbewerb und müssen sich dort behaupten können.
Welche zu enge Vorgabe nervt Sie denn im Moment besonders?
Es ist die Summe aller Gesetze und Auflagen, Berichtspflichten und Vorgaben, die die Unternehmen belastet. Laut einer DIHK-Studie leisten beispielsweise Unternehmen in der Gastronomie durchschnittlich 14 zusätzliche Stunden pro Woche, um 100 bis 125 komplexe Vorschriften zu erfüllen – von der Kassenrichtlinie bis zur Datenschutzgrundverordnung. Hier müssen wir deutlich entschlacken.
Und was heißt das im Umkehrschluss? Um welche Probleme muss sich die Wirtschaft auch in Zukunft selber kümmern – egal, wie die nächste Regierungskoalition aussieht?
Die Unternehmen engagieren sich natürlich um das eigene Geschäftsmodell, die unternehmerischen Innovationen und den Erfolg am Markt – es kommt aber zudem auf die Rahmenbedingungen an. Die müssen stimmen. Gerade in Deutschland sind sich die Unternehmen ihrer Verantwortung etwa gegenüber den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, gegenüber Umwelt- und Klimazielen und den Sozialstandards bewusst. Generelles Misstrauen und Detailregelungen sind daher der falsche Ansatz.
Was ist mit dem strukturellen Fachkräftemangel in Folge des demografischen Wandels? Hat die Politik da überhaupt einen Einfluss darauf? Oder werden die Unternehmen schlicht und ergreifend Wege finden müssen, mit weniger Personal auszukommen?
Beides ist nötig. Unternehmen können mit guten Arbeitsbedingungen, flexiblen Arbeitszeitregelungen und passenden Weiterbildungsangeboten beispielsweise attraktive Angebote für ältere Beschäftigte schaffen. Die staatlichen Anreize zur Frührente machen ihnen jedoch oft einen Strich durch die Rechnung. Oder nehmen Sie die Regelungen und insbesondere die Umsetzung der Fachkräfteeinwanderung – hier haben wir in der Verwaltungspraxis noch viel Luft nach oben. Angesichts der Demographie werden wir aber auch kreativ sein müssen und überlegen, wo wir mit weniger Personal auskommen können – etwa durch Automatisierung, Digitalisierung und KI. Auch hier ist die Politik neben den Betrieben gefordert, weil sie stärker Chancen statt Risiken in den Mittelpunkt stellen muss, beispielsweise bei Datennutzung und Datenschutz.
Die deutsche Wirtschaft ist sehr exportorientiert – das gilt für Großunternehmen ebenso wie für viele der in der Regel besonders kleinen Betriebe in Thüringen. Was erwarten Sie für diesen Teil der Wirtschaft angesichts der zweiten US-Präsidentschaft Donald Trumps, der auch mit der Verhängung von Zöllen gedroht hat?
Das stimmt. Jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland hängt direkt oder indirekt am Exportgeschäft, in der Industrie sogar jeder zweite. Die deutschen Unternehmen leben vom internationalen Geschäft. Die deutsche Wirtschaft muss sich in der zweiten Amtszeit von Donald Trump auf stärkeren Protektionismus und höhere Handelshürden einstellen. Der Handel mit den USA droht dadurch deutlich schwieriger zu werden. Falls die Trump-Administration einen generellen Importzoll einführt, wäre dies ein herber Rückschlag für die deutsche Wirtschaft – in einer ohnehin bereits angespannten Situation.
Wird die nächste deutsche Bundesregierung überhaupt einen Einfluss auf diesen Mann – Donald Trump – haben?
Es ist wichtig, miteinander im Gespräch zu bleiben. Die USA werden auch in unruhigen Zeiten ein unverzichtbarer Wirtschaftspartner für die deutschen Unternehmen bleiben – und umgekehrt. Vor dem Hintergrund gestiegener geopolitischer Risiken und einer geringeren Wettbewerbsfähigkeit brauchen wir eine kluge EU-Handelspolitik und eine ambitionierte EU-Wettbewerbsagenda. Zur Sicherung des internationalen Handels und zur Diversifizierung von Lieferketten brauchen wir neben verlässlichen transatlantischen Beziehungen mehr Handel mit anderen Wirtschaftsregionen. Das EU-Mercosur-Abkommen muss deshalb zügig in Kraft treten; Handelsabkommen mit Indien und Indonesien müssen vorangebracht werden. Gemeinsam mit unseren Auslandshandelskammern setzen wir uns weiter dafür ein, dass Unternehmen auf beiden Seiten des Atlantiks im fairen Austausch und Wettbewerb miteinander stehen.
Schauen wir vier Jahre in die Zukunft: Wird die wirtschaftliche Lage der Unternehmen im Land dann wieder ein entscheidendes Thema im Wahlkampf sein?
In vier Jahren werden wir uns hoffentlich aus der aktuellen Krise herausgearbeitet haben und die deutsche Wirtschaft wieder robuster dastehen. Aber die Wirtschaftspolitik wird auch dann ein wichtiges Thema sein. Ohne einen wettbewerbsfähigen Standort, ohne innovative und erfolgreiche Unternehmen, ohne neue Technologien und Ideen und ohne eine hohe Beschäftigung werden wir auf Dauer kein Wirtschaftswachstum haben. Ohne Wachstum gibt es aber auch keine steigenden Steuereinnahmen und keine nachhaltige Basis für unseren Sozialstaat. Wir sollten in der Gesellschaft Wirtschaft und Unternehmertum wieder stärker als etwas Positives wahrnehmen. Denn sie sind in Verbindung mit dem Engagement der Beschäftigten die zentrale Grundlage unseres Wohlstandes.
Sie haben den Eindruck, dass über Wirtschaft und Unternehmertum in Deutschland zu schlecht gesprochen wird?
Wir sehen an unseren Umfragen zu Unternehmensnachfolge und zu Gründungen in Deutschland, dass zumindest das Interesse an Unternehmer-Sein zurückgeht. Das hat sicher unterschiedliche Gründe, ist aber bedenklich. Als IHK-Organisation arbeiten wir auch mit den Beratungen vor Ort daran, diesen Trend umzudrehen.
Thüringen hat seit einigen Wochen eine neue Landesregierung, hier regiert die erste Brombeer-Koalition Deutschlands. Was trauen Sie dem Bündnis zu? Was nicht?
Politik ist jetzt auf allen Ebenen gefordert, zusammen mit der Wirtschaft am Erfolg nicht nur Thüringens, sondern des ganzen Landes zu arbeiten. Wir stehen vor großen globalen Herausforderungen, arbeiten an einer Transformation unserer Wirtschaft, müssen mit neuen geopolitischen Veränderungen und vielfältigen Herausforderungen in Europa umgehen. Alle sind gefragt, sich einzubringen und anzustrengen, dann kann Deutschland auch wieder wirtschaftlich vorwärts kommen.
Interview: Sebastian Haak